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„Patrimoine“: ein Begriff mit vielen Facetten im Wandel der Zeit
Welche Assoziationen verbinden wir mit dem französischen Begriff „patrimoine“, im Deutschen oft mit „Erbe“ oder „Vermögen“ wiedergegeben? Eine Definition dieses Begriffs ist ein komplexes Unterfangen, hat dieser sich doch nicht nur in seinem Umfang, sondern auch in seiner Substanz stark von seinen Ursprüngen entfernt. Dieser Artikel ist der dritten Ausgabe der „Cahiers“ der Banque de Luxembourg entnommen, die sich dem Thema „Vermögen“ in seinen verschiedenen Dimensionen widmet (in Kürze erhältlich). von Valérie Desprets.
Heute umfasst der Begriff „patrimoine“ sowohl private Güter, die an einen Erben übergehen, als auch Gemeingüter einer bestimmten Gemeinschaft. Damit beschränkt er sich nicht auf die Übertragung materieller Güter, sondern bezieht sich auch auf Kunstobjekte, Denkmäler, Landschaften und sogar Sitten, Gebräuche und überliefertes Wissen einer Gruppe, einer Nation oder der gesamten Menschheit. Umgedeutet durch verschiedene Adjektive (geschichtliches Erbe, genetisches Erbe, Naturerbe, Kulturerbe und sogar universelles Erbe), wird der Begriff den Worten des Historikers Jean-Yves Andrieux (1) zufolge zu einem „Nomaden-Konzept“ mit vielen Facetten.
Der französische Begriff „patrimoine“ ist konzeptionell untrennbar mit „héritage“ verbunden, während „Vermögen“ und „Erbe“ im Deutschen durchaus unterschiedliche Assoziationen wecken. Im Grunde geht es bei „patrimoine“ immer um etwas, das uns von unseren Vorfahren vermacht wird, wenngleich dieses Erbe im Laufe der Geschichte die engen Grenzen des ursprünglichen Konzepts gesprengt und sich damit auch in seiner Funktion grundlegend verändert hat. Die wörtliche Übersetzung des lateinischen „patrimonium“ lautet „was vom Vater kommt“. Daraus leitet sich auch die ursprüngliche Bedeutung von „patrimoine“ ab, das ab dem 12. Jahrhundert synonym zu „Familienvermögen“ verwendet wurde. Hierunter verstand man alle privaten Güter des pater familias, für die er Rechtsansprüche begründen oder Eigentumsrechte geltend machen konnte, und die verkauft werden konnten. Somit war der Wert des Erbes („héritage“), das von Generation zu Generation weitergereicht wurde, gleichzusetzen mit dem Marktwert dieser Güter. Diese auf rein wirtschaftliche Aspekte beschränkte Interpretation erklärt auch, warum von der Antike bis in die 1950er Jahre bei der Übertragung dieses Familienvermögens meist die Wahrung der eigenen Interessen im Vordergrund stand und entsprechende Allianzen geschmiedet wurden.
Die Heirat der Nachkommen stellte eine Gefahr für die wirtschaftlichen Interessen der Familie dar, sodass das Familienoberhaupt Schritte unternehmen musste, um seine Rechte an dem Vermögen zu verteidigen. Eheverträge und die sich daraus entwickelnden Erbfolgeregelungen sicherten die soziale Reproduktion. Die Wahrung des eigenen Erbes garantierte Stabilität und somit auch den Fortbestand der Gesellschaft. Diese fest im privaten Bereich verwurzelte klassische Definition hat noch immer Gültigkeit. Im Laufe der Zeit hat sich der Begriff „patrimoine“ in seinem Umfang indes weiter ausgedehnt: „Erbe“ können heute auch öffentliche Güter oder Güter einer größeren Gemeinschaft von Menschen sein.
Vom Familien- zum Kulturerbe
Die erste Auflistung von Denkmälern fand sich bereits 29 v. Chr. in der von Philon von Byzanz verfassten Schrift zu den sieben Weltwundern der Antike und zeugt von den Anfängen des Konzepts, dass auch Dinge vererbt werden, die nicht käuflich und kollektives Eigentum sind. Der Rechtsbegriff öffentlicher oder kollektiver Güter entstand de facto im Mittelalter. Damals beschäftigte sich erstmals die Kirche mit der Frage, wie Wertgegenstände auch außerhalb der Familie geschützt und an spätere Generationen weitergegeben werden können.
Beispiele hierfür waren Reliquien von Heiligen, Insignien, Bestände königlicher und fürstlicher Bibliotheken, Archive königlicher und religiöser Institutionen (Abteien) und historische Gebäude.
Das humanistische Gedankengut der Renaissance und später der Aufklärung beflügelte anschließend Gelehrte und Sammler in ganz Europa, die sich voller Faszination mit den Spuren der Vergangenheit und dann auch der Kultur außerhalb der westlichen Welt beschäftigten. Was vielmals als Kuriositätenkabinett begann, wurde bald zu einem auf einen bestimmten Bereich spezialisierten Museum. Insbesondere in Frankreich und Italien entstanden zahlreiche Kunstsammlungen von Fürstenhäusern, die als erstes Zeugnis europäischen Kulturerbes gelten. Diese Entwicklung folgte damals jedoch noch einer auf die Wahrung privater Interessen beschränkten Logik und war einem kleinen privilegierten Kreis vorbehalten.
Der Keim für die Herausbildung eines Bewusstseins für die Bedeutung von Kulturerbe wurde indes im 18. Jahrhundert gelegt, als sich eine Reihe von Herrschern, die im Geiste der Aufklärung handelten und fest davon überzeugt waren, dass der Austausch von Wissen Grundvoraussetzung für Fortschritt ist, dazu entschloss, die fürstlichen Sammlungen für die Öffentlichkeit freizugeben. Daraus entstanden die ersten Museen wie das British Museum, das als „Allgemeingut“ zur öffentlichen Nutzung verstanden wurde.Es folgten weitere prominente Beispiele wie das 1783 gegründete Museum der Stadt Wien, der 1785 erbaute Prado in Madrid und die 1796 eingeweihten Uffizien in Florenz. Die ersten Nationalmuseen öffneten ihre Tore im 19. Jahrhundert und im Laufe des 20. Jahrhunderts fand die Bewegung zum Schutz und Erhalt von Kulturerbe immer mehr Unterstützer. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz nach dem Zweiten Weltkrieg und gipfelte in der Idee der UNESCO, bestimmten Stätten den Titel „Welterbe“ zu verleihen.
Ausweitung auf immaterielle Ebene
Eine weitere Facette hat der französische Begriff „patrimoine“ durch einen Bedeutungswandel in seiner Substanz bekommen. Das Erbe wird nach dem Abstammungsprinzip durch Individuen oder im Kollektiv weitergereicht und begründet so ein vertikales Band zwischen den Generationen, das sich wie ein roter Faden durch die Jahre und Jahrhunderte zieht und sich bis zu den Anfängen einer sozialen Gruppe zurückverfolgen lässt. Damit verwoben sind Mythen über die Ursprünge dieser Gesellschaft, die Herausbildung einer kollektiven Identität, der Bereich des Religiösen und Sakralen.
Der Begriff „héritage“ bezeichnet im Französischen nicht nur das Erbe an sich, sondern auch den Vorgang des Vererbens, also der Übertragung nach Abstammung, und wurde so im Laufe der Zeit immer stärker identitätsstiftend.
In den Arbeiten der Familiensoziologen, allen voran Bourdieu, wurde schon sehr früh darauf hingewiesen, welche entscheidende Rolle die Familiengeschichte bei der Weitergaben von Erbe jedweder Art spielt. Erbe ist hier im weitesten Sinne zu verstehen: Neben den rein materiellen Aspekt traten auch Gefühlsfragen und Symbolik. Erbe wurde zum Kondensat familiärer Traditionen, der Vermittlung von Werten, Moralvorstellungen, Ideologien oder einer bestimmten Kultur oder auch zum Sozial- und Beziehungskapital. Im ursprünglich materiell ausgerichteten Erbbegriff schwingt also auch eine emotionale und ideologische Komponente mit. Das bedeutet, dass bei der Frage nach dem reellen Wert eines Vermächtnisses genau diese zwischen den Generationen durch Vererbung geknüpften Bande betrachtet werden müssen. Diese Bedeutungsverschiebung von der rein materialistischen Auslegung hin zu einem abstrakteren Begriff lässt sich auch auf das Konzept der kollektiven Weitergabe von Kulturerbe übertragen.
Jedes Zeugnis der Vergangenheit (so nah sie auch sei), das uns hilft, die Gegenwart zu verstehen, verdient es, erhalten zu werden. Und ein historisches Denkmal zeugt nicht nur von der Macht eines Volkes oder einer Gesellschaft, sondern vermittelt vielmehr ein Gefühl für die Kultur und die gemeinsame Geschichte. Jean-Yves Andrieux spricht in seinen Arbeiten von einem Bedeutungstransfer: „Der Begriff „patrimoine“ bezieht sich fortan gleichermaßen auf materielle wie immaterielle Werke verschiedenster Epochen und erhält so immer wieder neuen Symbolcharakter.“ Der eigentliche Wert erschließt sich somit nicht allein aus der Sache an sich, sondern aus dem damit verbundenen Wissen über die künstlerischen, handwerklichen oder technischen Fertigkeiten.
Die UNESCO verweist in ihren Ausführungen zum immateriellen Kulturerbe ausdrücklich darauf, dass es sich hierbei um „traditionelle und zugleich zeitgenössische Ausdrucksformen“ handelt, die wegen ihres kulturellen Einflusses, vor allem aber aufgrund der Tatsache, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben werden, bewahrt werden müssen. „Die Weitergabe von Wissen ist für Minderheiten in einem Land, sei es ein Entwicklungs- oder ein Industrieland, in sozialer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht ebenso bedeutend wie für große gesellschaftliche Gruppen.“
Universeller Charakter
Aus einem vor allem wirtschaftlich (Familienvermögen oder Gemeingut) und juristisch geprägten Konzept hat sich somit allmählich ein emotional, symbolisch und religiös/sakral aufgeladener Begriff entwickelt, der nicht mehr zeitgebunden ist und Kontinuität sichert – und damit eine politische Funktion bekommt. Die Definition folgt dem Prinzip der variablen Geometrie, so dass je nach Kontext materielle Güter oder moralische Werte gemeint sein können und sowohl bei Verwendung in der Welt der Finanzen als auch im kulturellen Zusammenhang jeder weiß, was gemeint ist. Denn im Grunde geht es weniger um die Sache an sich, sondern vielmehr um das Phänomen der Patrimonialisierung, dieses oftmals komplexe Zusammenspiel aus Vergessen und Abkehr, Zerstörung, Selektion, Ansprüchen und Anerkennung von Teilen oder der Gesamtheit eines Erbes. Dieser Prozess zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.
Immaterielles Vermögen im Unternehmen
In der westlichen postindustriellen Welt wird der tatsächliche Wert eines Unternehmens nicht mehr allein durch den Buchwert der Vermögenswerte definiert. Das Kapital, also das Vermögen eines Unternehmens umfasst zunehmend auch immaterielle Vermögenswerte: die Mitarbeiter, die Struktur (Organisation, Know-how, Marken, Informationen, Expertise, Image und Renommee), die Kunden, die Nachfrage und die Lieferkette. All diese unternehmensrelevanten Komponenten bleiben in der Bilanz unberücksichtigt. Alan Fustec (2), Experte auf diesem Gebiet, vertritt die These, dass sich der reelle Wert eines Unternehmens nur unter Berücksichtigung der verborgenen Schätze bemessen lässt, die in einem Unternehmen schlummern und die Rentabilität in Zukunft sichern, aber nicht in den Büchern zu finden sind. Der immaterielle Aspekt findet sich übrigens auch in der inzwischen geltenden Definition des juristischen Begriffs „patrimoine“ sowohl in Bezug auf natürliche Personen (Einzelpersonen oder die Familie) als auch auf juristische Personen wieder, wird damit doch die Gesamtheit der Güter bezeichnet, für die Ansprüche oder Eigentumsrechte geltend gemacht und die verkauft werden können (Name, Reputation, Marke, Know-how, Kundenportfolio etc.).
(1) Jean-Yves Andrieux, Patrimoine et histoire, Paris, Belin, 1997, S. 18. Zitiert durch Françoise Choay, L’allégorie du patrimoine, Paris, Seuil, 1992, S. 9.
(2) Alan Fustec ist ein anerkannter Experte, lehrt an der Ecole des hautes études commerciales (HEC) und ist Gründer und CEO des Instituts Goodwill-Management, das sich auf die Bewertung von immateriellem Kapital spezialisiert hat.